Individualismus und Intuition statt Zentralismus: Der Deutsche Leichtathletikverband entdeckt eine alte Trainingsdoktrin

Quelle: F.A.Z., 25.07.2007, Sport, Seite 28, Michael Reinsch

Weg vom Diktat der Zahlen und der Diktatur des Planes
“Ich bin ein Ostkind und stehe voll hinter dem DDR-Sportsystem.” Ulrike Urbansky, die deutsche Meisterin über 400 Meter Hürden, wusste sofort, woher der Wind weht, als sie auf die Vorstellungen von Jürgen Mallow zum Thema Training angesprochen wurde: aus dem Westen. Der Leitende Bundestrainer hatte bei der deutschen Meisterschaft in Erfurt, der Heimatstadt der einstigen Junioren-Weltmeisterin Ulrike Urbansky, gesagt: “Mit Trainingsmethoden, die anders sind als die im DLV vorherrschenden, hatten wir in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren erheblich bessere Leistungen als jetzt.” Eike Emrich, Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), unterfütterte die neue Doktrin: “Wir trainieren falsch. Wir haben ein Nachhaltigkeitsproblem. Wir trainieren zu viel und zu intensiv. Training muss intuitiver und ganzheitlicher gestaltet werden. Athleten sind keine mechanischen Maschinen.”

Nicht nur für Ulrike Urbansky klingt da an, dass es um mehr geht als Trainingswissenschaft. Mallow, vor drei Jahren berufen, als die deutschen Leichtathleten von den Olympischen Spielen in Athen gerade zwei Silbermedaillen mitbrachten, ist angetreten, seinen Sport vom Diktat der Zahlen und der Diktatur des Planes zu befreien. Das ist ein grundsätzlich anderes Programm, als es sein Vorgänger verfolgte, der auch in der DDR verantwortliche Cheftrainer Bernd Schubert. Offenbar aber wurzelt die Vorstellung von einem zentralistisch und hierarchisch organisierten Leistungssport tief.

“Ich brauche ganz klare Strukturen und einen harten Trainer”, behauptet die Hürdenläuferin Ulrike Urbansky. Selbst Thomas Springstein, der inzwischen wegen Dopings Minderjähriger verurteilt wurde, vertraute sie sich an. Doch sie musste erfahren, dass Härte an sich keine Tugend ist. “Jahrelang wollte ich meinen Körper zu irgendwas zwingen. Im Dezember bin ich im Training zusammengebrochen.” Drei Wochen lag sie im Krankenhaus, um eine Gelbsucht auszukurieren. Vorsichtig begann sie wieder mit dosiertem Training, um die sportliche Karriere noch halbwegs ehrenvoll bei der deutschen Meisterschaft zu beenden. Nun gewann sie mit 55,22 Sekunden und qualifizierte sich für die WM in Osaka. Eigentlich personifiziert sie Athleten, die von ihren Trainern intelligent gehegt und gepflegt werden, wie es Mallow fordert und wie er es einst mit dem Hindernis-Weltmeister Patriz Ilg praktizierte.

“Leistungssport ist unabhängig vom gesellschaftlichen System”, behauptet Bundestrainer Eberhard König, der auch Ulrike Urbansky trainiert. “Es gibt trainingsmethodische Gesetzmäßigkeiten.” Den Unterschied zwischen DDR-Sport und dem heutigen benennt er so: “Die Athleten sind nicht mehr so verfügbar.” Wenn der Druck zu groß wird, wechselt der Sportler den Trainer oder die Sportart.

Genau das tat Moritz Höft, der dem Favoriten Rene Herms am Sonntag in 1:48,30 Minuten die Meisterschaft über 800 Meter vor der Nase wegschnappte. Als er wegen seines Medizinstudiums von Bremen nach Berlin wechselte, schloss er sich der LG Nike an, wo er zehnmal pro Woche trainieren sollte. “Ich bin weg, weil ich dachte, ein hauptamtlicher Trainer braucht auch hauptamtliche Athleten”, sagte er. Jetzt trainiert er bei Roland Wolf, einem Medizinprofessor, in der LG Berlin-Nord. “Intuition, Improvisation?”, wiederholt er. “Mein Trainer ist so einer. Es gibt keine Trainingspläne. Er reagiert auf das, was passiert. Das ist sehr individuell.”

Da auch vermeintliche Weltklasse-Talente wie Herms nicht internationalen Maßstäben gerecht werden, ist doch bemerkenswert, dass der zwölfköpfigen Trainingsgruppe Wolfs zwei deutsche Meister und ein Zweiter entsprungen sind. Carsten Schlangen, ein Architekturstudent, verteidigte in Erfurt souverän seinen Titel über 1500 Meter vor seinem Vereinskameraden Franek Haschke, einem angehenden Mediziner. “Das Konzept muss immer zum Athleten passen”, sagt Wolf. Bei ihm heißt das: hohe Belastung bei geringen Umfängen. Schließlich brauchen seine Schüler und Studenten Zeit, sich auf das Leben nach dem Sport vorzubereiten. “DDR-System gegen das des Westens? Ich glaube nicht, dass man das so zuspitzen kann”, glaubt Wolf. “Selbstverständlich geht Training nicht ohne Konzept. Ich glaube aber auch nicht, dass die Spitzenleute der DDR nach Schema F trainiert haben.” Ebenso wie Moritz Höft während seines Studienaufenthalts in der Schweiz allein trainiert, absolviert Ulrike Urbansky ihre Übungen regelmäßig auch ohne Aufsicht.

Und doch ist die Diskussion um Training nach Ost- oder West-Mentalität im Gange, und sie ist zutiefst politisch. Mallow und Emrich wenden sich gegen Zentralismus, wie er sich in Trainingszentren und Eliteschulen manifestiert, sie kämpfen gegen Trainer, die sich hinter Planvorgaben verschanzen. Sie erwarten, dass der Athlet eigenen Antrieb entwickelt und einen eigenen Weg geht. Dass er Subjekt ist, nicht Objekt. Die Botschaft ist längst angekommen im Osten. “Rahmenbedingungen für Spitzensport sind auch Studienmöglichkeit und berufliche Perspektive”, sagt König. “Das ist häufig wichtiger als eine Trainingshalle.” Vielleicht ist die Leichtathletik, im Jahr 16 der Einheit, angekommen im Deutschland von heute.

Einen Kommentar zu “Individualismus und Intuition statt Zentralismus: Der Deutsche Leichtathletikverband entdeckt eine alte Trainingsdoktrin”

  1. Andreas schreibt:

    Dieser Vergleich zwischen Training im Osten und Westen nervt ein wenig. Zu Zeiten von Ost und West gab es ganz andere Situationen. Ich will als Kind des Ostens nicht viele Worte verlieren über das Training im Westen. Tatsache ist, Sportler/Leichtathleten in der ehemaligen DDR haben ein viel besseres Umfeld vorgefunden als heute.

    Ich selber durfte einen Teil dieses Umfeldes auf der Werner-Seelenbinder Oberschule auch nach 1990 noch erleben. Es herrschten Bedingungen die man sich im Westen Deutschlands überhaupt nicht vorstellen konnte. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Sport vermochte es einem die Sicherheit zu geben, sich auf beides konzentrieren zu können ohne die Angst im Nacken, das schaff ich nicht.

    Leichtathletik muss nicht nur attraktiver für Zuschauer werden sondern auch für die Sportler. Sehen wir es realistisch: in der heutigen Zeit kommt niemand drum rum eine Ausbildung, sei es Studium oder Beruf, zu durchlaufen. Die wenigen haben die Chance und Hoffnung darauf mit dem Sport ihr Lebensunterhalt so zu verdienen, so dass es am Ende einer Karriere für den Rest des Lebens reicht.

    Jungen, aussichtsreichen Sportlern muss das Umfeld gegeben was sie brauchen. Das beginnt bei angepasstem Training, zeitlicher Flexibilität des Trainings und die Chance einen Beruf/Ausbildung mit dem Sport zu verbinden.

    Ich selber habe mehr als ein Jahr lang mit dem Leistungssport ausgesetzt. Die Schulzeit war vorbei und mein Arbeitsleben begann in einer Branche wo man nicht immer auf die Uhr schaut und es ausschließlich flexible Arbeitszeiten gab. Dies ließ sich nicht mehr mit einem Training bei meinem damaligen Trainer realisieren. 16 Uhr auf dem Trainingsplatz stehen, frisch und motiviert sein, dass funktioniert nicht mehr. Die Regeneration kam zu kurz und der Spaß verschwand.

    Ich denke man muss wie so oft das beste aus beiden System beibehalten und sie vor allem an die heutige Zeit anpassen. Leider tut sich damit der DLV und seine dazugehörigen Landesverbände sehr schwer.

    Ich lass mich überraschen wie der DLV die Weltmeisterschaft im eigenen Land nutzt um den jungen Nachwuchs heranzuführen, ihn von der PlayStation und dem Einkaufcenter abzuholen.
    Aber das ist dann ein anderes Thema.

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